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De hier weergegeven scène komt uit een vroege fase van de redactie van de roman en is daarom nog niet gecorrigeerd. Het gedeelte beantwoordt tenminste de vraag of een bekend personage waar veel lezers van zijn gaan houden terug is :-)

 

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Am Domplatz

Als Rode den Pastor und sein Pfarrhaus am dritten Tag wieder verlässt, ist er ein neuer Mensch: sauber und satt, ohne die alten, stinkenden Lumpen am Leib. Der Geistliche hatte tief in seine Kiste mit Almosen gegriffen, um den wunderlichen, hageren Mann einigermaßen einzukleiden – der alte Aufzug war ohne Umschweife im Feuer gelandet.
Es war angenehm gewesen, sich mit dem Pastor zu unterhalten. Der Mann tut, was irgendwie in seiner Macht steht, um den Menschen zu helfen – da ist sich Rode sicher. Und dennoch ist der Geistliche genauso hilflos wie seine Schäfchen, wenn er an seine Grenzen kommt. Es fiel dem ehemaligen Arzt und Zauberer nicht schwer, die Verzweiflung in dem Pastor ans Tageslicht zu bringen. Alleine: Helfen konnte er ihm wenig, außer mit guten Worten.

»Leider vermag ich keine Wunder zu vollbringen wie unser Herr Jesus«, sagt der Pastor und zuckt mit den Schultern. »Die Stadt liegt in Trümmern, die Menschen hungern, der Winter war hart – was kann ich da schon ausrichten?« Das Gesicht des Pastors wird sehr ernst. »Waren Sie während der Luftangriffe im Sommer 1944 in Friedensthal?«
»Nein. Ich habe den Großteil des Krieges in den Niederlanden verbracht.«
»Dann wissen Sie vermutlich nicht, aber die Stadt ist in vier Nächten zu dem geworden, was sie jetzt ist: ein Trümmerhaufen! Fliegeralarm war natürlich viel öfter, aber getroffen wurde Friedensthal nur in den vier Nächten. Unsere Nachbarstadt auf der anderen Seite des Flusses hat da viel länger gelitten, aber das Ergebnis ist das gleiche – verrückt, nicht war? Wenn die Sirenen losgingen, sind die Menschen in Scharen zum Luftschutzbunker geströmt. Jeder wusste, sie haben höchstens 15 Minuten, nicht länger! Die Eingangstüren zu den Bunkern sind naturgemäß klein – es können also nur wenige Menschen gleichzeitig hinein. Die Folge war, dass beim Schließen der Türen noch viel zu viele draußen waren.«
»Ich fürchte, ich verstehe.«
»Jeder hat alles dafür getan, um noch in den Bunker zu kommen –  und mit alles meine ich auch alles. Je weiter man in den Bunker ging, desto stiller wurde es, weil man die Schreie von draußen nicht mehr hören konnte. Wenn der Angriff dann vorbei war, ließen sich die Bunkertüren kaum von innen öffnen – es lagen zu viele Tote davor.«
Rode nickt – und schweigt.
»In der ersten Nacht bin ich noch hin, danach bin ich hiergeblieben. Unterhalb des Kirchenschiffs gibt es eine Krypta. Ich habe mir gedacht, wenn ich schon sterbe, dann wenigstens in meiner Kirche. Ein paar Menschen konnte ich noch von der verschlossenen Bunkertür wegholen und in die Krypta retten, aber die meisten haben verzweifelt versucht, doch noch dort hinein zu kommen.«
»Sie haben getan, was Sie konnten – weil Sie daran geglaubt haben, dass Sie das Richtige tun. Vielleicht denken Sie, das sei nur ein kleines Wunder, aber es hat Menschen das Leben gerettet! Also hat Ihr Glaube doch Berge versetzt, nicht wahr?«
»Sie kennen sich mit der Thematik ein wenig aus, so scheint mir?«
Rode schüttelt den Kopf, dann lächelt das frisch rasierte Gesicht. »Nicht der Rede wert, Herr Pastor. Wenn ich ehrlich bin, gab es Zeiten, da haben mich ein paar Schrauben zur Verzweiflung gebracht! Heute weiß ich, es wäre ein völlig unnützes Wunderchen gewesen, wenn es funktioniert hätte. Was Sie dagegen getan haben, tun und immer wieder versuchen, ist etwas Wahrhaftiges – es liegt Segen darauf, glauben Sie mir!«
»Danke, Herr Rode. Das gibt mir neue Kraft für die täglichen Aufgaben.«
»Gern geschehen, Hochwürden! Jetzt muss ich Sie leider verlassen: Mein Schicksal ruft mich fort von hier, hinaus in die Welt!«

 


Rodes Weg führt ihn zum Stadtrand, den Fluss im Rücken, wo die größtenteils noch intakte Bebauung sich bereits mit Wiesen und kleinen Waldstücken abzuwechseln beginnt. Als er gedankenlos die nächste Kurve hinter sich bringt, entdeckt Rodes etwas Unerwartetes: ein Zirkuszelt mit allerlei Wagen und kleineren Zelten drumherum.
Rode schmunzelt: hier, am Rande der zerstörten Stadt mit ihren Trümmerbergen, dem Staub und der Asche einen Zirkus zu sehen, ist an Surrealismus nicht zu übertreffen. Doch seine Neugier ist geweckt!
Er war nie mit einem Zirkus gefahren; seine Rolle war die des Alleinunterhalters, des umherziehenden Zauberkünstlers. In seinen zwei Koffern hatte er alles bei sich getragen, was er zum Überleben gebraucht hatte: seine Zauberutensilien, Umhang und Hut, einen Kochlöffel als Ersatz für den Zauberstab; etwas Kleidung, einige Schrauben, seine Notizen und Referenzen. All das hatte er vor Jahren in Doorn hinter sich gelassen. Es ist wie ein flüchtiger Blick zurück in ein anderes Leben – und doch drängen ihn seine Füße rastlos in eben diese Richtung.

Als Rode wie ein Schlafwandler am großen Zelt ankommt, spricht ihn ein äußerst drahtiger, muskulöser Mann mittleren Alters an. Seine Haut hat die herrliche Farbe von fruchtbarer, erdig duftender Ackerkrume, die Haare sind pechschwarz.
»Guten Tag und herzlich willkommen, mein Herr! Sie sind früh dran: Die Vorstellung beginnt erst in einigen Stunden.«
Rode schüttelt den Kopf. »Ich wusste gar nicht, dass ein Zirkus in der Stadt ist. Der Zufall hat mich hierher geführt.«
Der Mann vor ihm lächelt. »Zufall? Und wohin wird der Sie führen, wenn Sie weitergehen?«
»Ich bin mir noch nicht sicher. Was ist mit Ihnen?«
Der Mann zuckt mit den Schultern. »Wir brechen nach der Vorstellung die Zelte ab und ziehen weiter. Wir bleiben in Baden, aber dann geht es rüber nach Holland. Bevor man uns alles wegnehmen wollte und der Krieg kam, hat dieser Zirkus jahrelang seine Sommer dort verbracht. Ich selbst war allerdings noch nie da.«
Rode legt den Kopf auf die Seite und reibt nachdenklich sein Kinn. »Holland? Wohin gehen Sie genau?«
»Erst in die Nähe von Breda, dann in die Umgebung von Utrecht«, erklärt der Zirkusmann. »Eine befreundete Familie hat uns die Gegend empfohlen. Wir haben dort noch keinen festen Platz – es ist also alles noch ungewiss.«
»Utrecht? Tatsächlich …«, murmelt Rode vor sich hin.
»Kennen Sie sich dort aus?«
»Ja, etwas, aber es ist schon ein paar Jahre her …«
Der Zirkusmann sieht Rode lange an. »Sie wirken sehr nachdenklich, mein Herr. Was führt Sie wirklich zu uns? Leben Sie hier in der Stadt?«
Rode schüttelt den Kopf. »Leben? Ich bin in diese Stadt geweht worden wie ein Blatt im Herbststurm. Ich werde hier keine Wurzeln mehr schlagen. Sagen Sie … Nehmen Sie mich wohl mit?«
Der Mann mustert Rode und legt die Stirn in Falten. »Sie?« 
»Ja! Vielleicht kann ich mich irgendwie nützlich machen? Ich habe zwei gesunde Hände, mit denen ich arbeiten kann.«
»Aber … Sie sind kein … keiner von uns.«
Rode winkt ab. »Ach was! Ist das ein Problem für Sie?«
»Nein, nein, ich dachte nur …« Der Mann zuckt mit den Schultern und wirkt sehr nachdenklich, als er weiterspricht. »Sie müssen Folgendes wissen: Die Menschen dort im Lager sind das, was die Zeit des Porajmos von den verschiedenen Sippen übrig gelassen hat. Hier sind keine drei Menschen miteinander verwandt, alle anderen sind in den Tod gegangen. Ich versuche, die Menschen unter einen Hut zu bringen und ihnen mit dem Zirkus ein zu Hause zu bieten. Frauen, Kinder, Greise …«
»Porajmos? Was bedeutet dieses Wort?«
»Es stammt aus der Sprache der Roma und bedeutet Das Verschlingen. Ich habe bis heute keine bessere Beschreibung für das gefunden, was geschehen ist. Auch in unserer Sprache nicht.«
»Das ist nicht Ihre Sprache?«
»Nein, ich und meine Familie gehören … gehörten zu einer kleinen Gruppe … Jetzt nennen wir uns Cetero. Ich …«
Rode sieht den Mann vor sich an, dann nickt er. »Ich verstehe, dass dies kein Gespräch ist, das Sie gerne führen. Lassen wir es auf sich beruhen.«
»Sie haben recht, mein Herr. Zwischen Ihnen und uns gibt es eine unsichtbare Mauer, die die Vergangenheit unserer Ahnen aufgetürmt hat. Es ist viel geschehen, was uns sehr vorsichtig sein lässt – gerade in den letzten Jahren.« Dann beginnt der Zirkusmann zu lächeln. »Dennoch will es mir ein wenig so erscheinen, als wenn Sie … anders sind.«
Rode zuckt mit den Schultern und schmunzelt. »Ich bin verrückt – vielleicht liegt es daran?«
Der Mann sieht Rode fassungslos an, dann beginnt er zu lachen. »Na, Sie haben aber eine entwaffnende Art, mit der Tür ins Haus zu fallen! Vielleicht …«
»Es wäre mir eine Ehre, mit Ihnen zu gehen, guter Mann! Also: Brauchen Sie noch jemanden, der ordentlich mit anpacken kann und sich in Utrecht auskennt? Danach würde ich wieder meines Weges ziehen, dann sind Sie mich wieder los. Ich spreche auch ein paar Brocken Holländisch. Wie wäre es?«
Der Zirkusmann schüttelt langsam den Kopf. »Guter Mann, eigentlich weiß ich nicht einmal, wie ich meine eigenen Leute und die Tiere durchbringen soll! Wir müssen betteln, verstehen Sie? Ich könnte Sie also gar nicht bezahlen.«
»Ich brauche kein Geld, auch kein Bett! Ich bin in den letzten Monaten mit weit weniger ausgekommen, als Sie sich vorstellen können.« Rode überlegt einen Augenblick und ergänzt dann hastig: »Vielleicht sollte ich erwähnen, dass ich mich ein wenig mit Papieren und Behördenangelegenheiten auskenne.« Ein breites Lächeln zeigt sich auf seinem Gesicht. »Ich kann zum Beispiel helfen, Dokumente zu beschaffen – falls welche verloren gegangen sein sollten oder es mal Probleme mit der Polizei gibt. Nun?«
Wieder schüttelt der Zirkusmann den Kopf. »Es tut mir wirklich sehr leid, mein Herr! Glauben Sie mir: Wenn ich Arbeit für Sie hätte, wären Sie der Erste, dem ich sie geben würde – außerhalb unserer Familien, meine ich. Aber das Einzige, was mir wirklich fehlt, ist ein Zauberkünstler.«
Das letzte Wort schlägt Rodes labiles Gemüt augenblicklich zu Boden! Im Bruchteil einer Sekunde kehren alle Erinnerungen zurück: an die Auftritte, die Reisen, das Lachen der Kinder … Rode grinst über das ganze Gesicht.
Dann wird sein Herz voll von der Trauer um Umhang, Hut und Koffer, die er in Doorn zurücklassen musste, als sie das Kind der jungen Jüdin retteten. Er hatte sich danach als Tagedieb durchgeschlagen, als Gauner, Fälscher und Hehler. Er hatte sein zweites Leben verloren, nachdem ihm das erste der Sud des Medizinmannes in Deutsch-Ostafrika genommen hatte. Und Doktor Otto Geering.
Rodes Lippen beginnen zu beben, eine Träne rinnt über seine linke Wange. »Ein Zauberer … Was Sie nicht sagen …«, schluchzt er.
Der Zirkusmann legt Rode die Hand auf die Schulter. »Was ist mit Ihnen? Fühlen Sie sich nicht wohl?« 
»Nein … ja … Ach, ich weiß es nicht! Ich dachte nur …«
»Kennen Sie vielleicht einen Zauberer?«
Rode weint bitterlich; halb vor Freude, halb vor Schmerz. »Vielleicht … Aber ich weiß nicht, ob er sich sein Handwerk noch zutraut. Und seine Utensilien sind verlorengegangen … Es ist so lange her …«
Der Zirkusmann nimmt die Hand von Rodes Schulter und streckt sie ihm entgegen. Wenn er vom Gefühlsausbruch seines Gegenübers irritiert ist, lässt er es sich nicht anmerken.
»Sprechen Sie mit diesem Mann, bitte! Sie würden mir sehr helfen! Und kommen Sie nachher zur Vorstellung – Sie sind mein Gast. Mein Name ist Sandro – ich bin gleichermaßen Oberhaupt dieses zusammengewürfelten Haufens und der Direktor des Zirkusses, seitdem die anderen nicht mehr sind.«
»Ich danke Ihnen, Herr Sandro.«
»Nur Sandro, bitte! Darf ich auch Ihren Namen erfahren, mein Herr?«
Rode wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und schnäuzt sich mit einem alten Taschentuch des Pastors geräuschvoll die Nase.
»Ich? Ich bin … Nein, ich war …« 
Rode ringt ein paar Atemzüge mit sich; dann ist ein zaghaftes Lächeln zurück in seinem Gesicht. Es ist entschieden.
»Doch: Ich bin der flinke Fritz, Ihr neuer Zauberer! Haben Sie vielleicht einen Kochlöffel aus Holz für mich? Meiner ist mir leider verlorengegangen.«

Textprobe "Kratteweis in Doorn"